(Anonym)
„In guten wie in schlechten Zeiten“. Mein Mann und ich waren nie besonders religiös, aber wir haben Versprechen ernst genommen und immer gehalten. Jetzt sind sie da, die schlechten Zeiten. Sie kamen schleichend, aber zu schnell. Viel zu schnell. Es begann mit leichten Gedächtnislücken, die wir auf familiäre Überlastung schoben. Heute, einige Jahre später, führe ich zwei Leben. Meins und das meines Mannes. Ich habe nie gelernt, den Tagesablauf, die Körperpflege und all das, was einen Menschen ausmacht, für zwei Menschen zu organisieren. Ich muss zugeben, dass mir das sehr schwer fällt, und wenn ich ehrlich zu mir bin, will ich mich mit dieser hoffnungslosen Situation nicht abfinden. Unsere drei Kinder leben alle weit weg, zwei davon im Ausland. Wir haben ihnen in ihrer Kindheit Wurzeln gegeben und später Flügel, mit denen sie ihrem Glück entgegenfliegen sollten. Aber es waren „Einwegflügel“, denn im Glück angekommen, haben sie Familien gegründet und Wurzeln geschlagen. Ich möchte meinen Kindern dieses Glück nicht vorenthalten, aber ich gebe zu, dass die aktuelle Situation nie auf meiner Liste stand und ich sie mir zurück wünsche, um mich zu unterstützen. Ich bin an der Grenze der Belastbarkeit angelangt.
Unser Sozialsystem soll eines der besten der Welt sein, aber ist es das wirklich? Wäre ein System, das auf die Stärkung und das Zusammenleben der Familie setzt, wie es in den Ländern des Südens der Fall ist, nicht klüger? Tatsächlich betreiben wir eine völlig unsinnige, widersprüchliche und kontraproduktive Sozial- und Familienpolitik. Wenn eine junge Familie Wohneigentum erwerben will, müssen bei den Bau- oder Kaufpreisen beide arbeiten gehen. Dementsprechend weniger, und wenn, dann findet die Familienplanung später statt. Dann arbeitet man ein Leben lang, um ein Immobilie zu finanzieren, auch wenn die Kinder längst aus dem Haus sind. So war es auch bei uns. Inzwischen haben wir unser Haus abbezahlt, aber neue Auflagen zwingen uns gnadenlos, wieder Kredite aufzunehmen, um die verfehlte Klimapolitik der letzten Jahrzehnte in kürzester Zeit auszugleichen. Wer denkt sich so etwas aus?
Wir sorgen systematisch dafür, dass die Familie sich nicht mehr um die Alten und Kranken kümmert. Wir leisten uns teure Sozialprodukte, die aber im Versicherungsfall nur einen kleinen Teil der bestehenden Belastungen auffangen. Hätten wir gewusst, dass wir mit Anfang siebzig ohnehin unser Haus verkaufen müssen, um den kommenden Anforderungen gerecht zu werden, hätten wir uns wahrscheinlich für ein bescheideneres Leben mit der ganzen Familie im engeren lokalen Umfeld entschieden. Diese Lebensform, die wir gerne als „spießig“ bezeichnen, ist eigentlich die bessere.
Manchmal schaue ich in den leeren Blick meines Mannes und empfinde angesichts meiner ausweglosen Situation ein wenig Neid auf ihn und seine Krankheit. Dann wünsche ich mir für einen kurzen Moment, meine Gedanken und Sorgen abschalten zu können.
Ich liebe meinen Mann trotz seiner Krankheit und der Folgen, die sie für mich hat. Oft werde ich wütend, weil ich das Gefühl habe, dass auch mein Leben vorbei ist. Eigentlich hatte ich nur meine Kindheit und Jugend bis zu meinem 23 Lebensjahr. Dann kam die Verantwortung und die Last. Sie hörte nie auf. Wir hofften trügerisch auf das Rentenalter, in dem wir alles nur noch für uns tun. Es kam anders. Diesen Ärger lasse ich gerne mal raus, aber dann bin ich auch froh, dass Ulrich sich später nicht mehr daran erinnert.
Tatsächlich geben mir die sozialen Medien die Möglichkeit, am Leben anderer teilzuhaben. Auf Facebook gibt es ja viele Leute, die täglich unzählige Bilder mit Glücksempfehlungen und klugen Zitaten posten. Lebe jeden Tag so, als wäre es dein letzter, etc. Klar, aber wer finanziert dieses Leben, das ich jeden Tag feiern soll? Mit dem Wissen von heute kann ich ganz andere Empfehlungen geben. Seid bescheiden, gründet eine Familie und haltet sie zusammen. Beschützt Euch. Lasst Euch nicht einreden, Ihr müsst jeden Tag feiern und jedes Jahr in ferne Länder reisen. Lasst Euch nicht programmieren, Ihr braucht diese Schminke oder jene Uhr. Was Ihr braucht, kostet nichts, außer der Investition in Werte.
In meinem Kopf dreht sich alles, ich kann es nicht mehr sortieren. Der Krieg, die teure Energie, das ständige Leben in Angst und Unsicherheit. Fehlende Unterstützung, Anträge, Bürokratie, schlaflose Nächte, Stigmatisierung, mir fehlt der Boden unter den Füßen. Ich bin orientierungslos.
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