Nachdem wir unser medizinisches Transportgut wie beschrieben abgegeben haben, suchten wir uns außerhalb von Warschau einen Platz, auf dem wir pausieren und etwas essen konnten. Wir waren schon leicht erschöpft, wobei die schwierigste Aufgabe noch vor uns lag. Um es kurz zu machen, man kann in einem Neunsitzer nicht schlafen. Auf jeden Fall gilt das für ungeübte Fernfahrer. Wir fuhren über Landstraßen bis Medyka. Die Qualität dieser Wege ist deutlich schlechter als die polnischen Autobahnen. Gegen Morgen kamen wir in Medyka an. Wir suchten uns eine Raststätte, um noch einmal zu essen und etwas Kaffee zu uns zu nehmen, dann fuhren wir noch ein paar Kilometer in Richtung Grenzübergang.
Dort angekommen konnte man das Hilfslager aus der Ferne erkennen. Es glich auf dem ersten Blick einem Flohmarkt, mit vielen bunten Wimpeln und Fahnen auf und an den Zelten. Wir näherten uns der Zufahrtstraße und einem Kreisel. Ein Volontär deutete uns, irgendwo zu parken. Uns ist direkt ein langer Stadtverkehrsbus aufgefallen. Er trug große Schriftzüge mit dem Städtename „Paderborn“ auf den Seitenflächen. Später haben wir erfahren, dass Paderborn scheinbar eine Partnerstadt von „Pschemysl“ (ein Nachbarort) ist. Schön zu sehen, dass Partnerschaft nicht nur aus Hinweisschildern, gegenseitigen Besuchen und Feiern besteht. Nachdem wir den Bus sicher abgestellt haben, ließen wir den ersten Eindruck auf uns wirken. Wir teilten uns auf und verabredeten uns für einen späteren Zeitpunkt auf dem Gelände, weshalb ich an dieser Stelle nur die eigenen Wahrnehmungen schildern kann.
Zunächst fiel auf, dass jedes Zelt ein anderes Modell war und auch die Farbvielfalt deutete darauf hin, dass die Zusammensetzung der Hilfsorganisationen sehr heterogen war. Es befand sich zahlreiches Hilfsangebot auf dem Gelände, entlang einer asphaltierten schmalen Strecke vom Grenzübergang bis zum Eingangskreisel. An den Seiten türmte sich der Müll von einigen Tagen. Mit Ausnahme der „Charging Station“ (Ladestation-/Zelt für mobile Geräte) war auf Anhieb nicht zu erkennen, welches Hilfsangebot sich in den Zelten befand. Auf dem ca. 400 Meter langen Weg vom Eingangsbereich bis zur Zollstation befanden sich vorwiegend Journalisten, die scheinbar regionale Politiker befragten. Somit befand sich auch eine üppige Anzahl von Personenschützern auf dem Weg.
Fast schon bezeichnend war, dass die eigentlichen Flüchtlinge gar nicht wahrgenommen wurden und sich an den Seiten des Weges, sehr ängstlich mit ihren Koffern vorbei zwängten. Prominente Organisationen (z.B. Unicef) wurden während unseres Aufenthaltes kontinuierlich von Journalisten befagt und beachteten während der Interviews die ankommenden Flüchtlinge nicht. Ein Stück weiter war ich nun an der Stelle angekommen, an der sich der kleine einsame Junge aus dem Fernsehausschnitt befunden hatte, der weinend und alleine über die Grenze geschickt wurde. Dieser Bereich besteht aus einer weiteren Zuwegung, die zur Zollstation führte. Innerhalb von 15 Minuten zählte ich 45 Flüchtlinge, die auf dem Fußweg aus der Ukraine über die Grenze kamen. Die Anzahl der Menschen, die wieder zurück in die Heimat wollten, konnte ich nicht schätzen, weil sich ja auch Politiker, Journalisten und Sicherheitspersonal darunter befand. Die eigentlichen Anzahl der Rückkehrer war auf jeden Fall ungleich höher. Ich stellte mir vor, wie der kleine Junge wohl weinend seinen Weg durch den Pressedschungel erkämpft hatte. Er muss aus reinem Zufall auf einen geeigneten Helfer gestoßen sein. Die Vorstellung, meine Kinder würden im Alter von sechs Jahren einer solch brutalen Tortur ausgesetzt, lässt mich erstarren und ich entwickele schlimme Emotionen gegen Putin.
An manchen Stellen sah ich Volontärs, die mit bunten Handpuppen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollten. Ich persönlich hatte das Gefühl, dass dieses wirklich gut gemeinte Angebot ein paar hundert Meter im rückwärtigem Raum angebrachter gewesen wäre. Ich kann mich aber auch irren. Aus beruflichen Interesse besuchte ich ein amerikanisches Hospital-Zelt. Es befand sich kein Patient darin. Der anwesende Chirurg und eine Krankenschwester begrüßten uns mit eingeübten Worten und Gesten. Ich fragte danach, ob ich mal „hinter den Vorhang“ sehen dürfe. Ich habe mich über den schlechten Zustand der „Bettenstation“ gewundert. Ich bedankte mich und verlies das Zelt. Angekommen auf der „Press Avenue“ trafen wir uns wie verabredet und versuchten, einen geeigneten Ansprechpartner zu finden, der uns bei der Vermittlung von Flüchtlingen behilflich sein könnte. Es ist uns klar, dass diese Beschreibung mehr an einen Tierhandel erinnert, aber es gibt einfach keine treffendere Worte.
Wir hatten in ukrainischer Beschriftung Schilder hochgehalten, auf denen unsere Absicht, Transport, Wohnung und Unterstützung nach/in Deutschland beschrieben war. Ich weiß nicht warum, es fühlte sich falsch an, Menschen mit dieser Gut-Herz Offensive zu überschütten, während sie sich noch den Weg in Richtung eines nicht vorhandenen Infozeltes suchen. Erfolglos suchten auch wir nach einer Informationszentrale. Vergeblich. Der Paderborner Omnibus, so sagte man uns, fährt regelmäßig die Flüchtlinge an einen 10 km entfernten Ort, wo sie registriert und in einem ausgedienten Einkaufszentrum untergebracht wurden. Wir beschlossen auch, nach „Pschemysl“ zu fahren.
Mir ist vollkommen klar, dass man Hilfsangebote nicht hoch genug einschätzen kann, jedoch falsch angewendet bewirken sie das Gegenteil. Die Systeme beschäftigen sich mit sich selbst und bekommen eine entsprechend hohe Aufmerksamkeit, wodurch die eigentliche Mission, Flüchtlinge adäquat zu unterstützen“ aus dem Blickwinkel verschwindet. Dieser Schauplatz erscheint wie ein Jahrmarkt für Selbst-Schau-Darsteller.
Zusammenfassend bewerte ich das Camp wie folgt:• Es fehlt die Gesamtführung in diesem sensiblen Bereich• Es fehlt an Organisation und Strukturierung im gesamten Bereich• Die „Flüchtlingsmeile“ ist nicht nach einem definierten Prozess ausgerichtet (z.B. zuerst Begrüßung > Gesundheitscheck > Essen/Trinken > Information > …) und vollkommen ungeschützt• Es existiert kein Pressebereich, in dem Interviews und Medienauftritte stattfinden• Hygienekonzepte (Toiletten, Duschen,…) sind nicht vorhanden oder nicht richtig ausgewiesen. Beides ist gleich schlecht zu bewerten• Der Müll türmt sich an der Flüchtlingsgasse anstelle von Sammelplätzen oder dem rückwärtigem Raum. Es Existiert Seuchengefahr
Ich könnte noch ein wenig weiter schreiben, aber was ich zum Ausdruck bringen möchte, in Medyka wird der Unterschied zwischen „gut gemeint“ und „gut gemacht“ spürbar. Eine deutsche Flagge haben wir an diesem Tag nicht gesehen.
Morgen: Mutter mit Kind
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