Wir nutzten die lange Fahrt, um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, sofern das in einem Neunsitzer möglich ist. Sprachlich halfen uns die zunächst spärlich erscheinenden Englischkenntnisse des siebzehnjährigen Jungen (N.). Die Mutter (L.) sprach lediglich ukrainisch und russisch. Wir hielten uns mit gegenseitigen Fragen über Angehörige, Kriegsszenarien oder politischen Äußerungen zurück. Nachdem wir den 13.04. ein paar Stunden geschlafen hatten, trafen wir uns bei mir zuhause in der Küche und aßen ein paar Kleinigkeiten. L. und N. berichteten von ihrer viertägigen Anreise von Charkiw nach Pschemysl, während wir erste Übersetzungstechniken mit dem Smartphone einstudierten.
Putins Truppen wüteten besonders in der Heimatstadt Charkiw und L. beschloss, mit ihrem Sohn nach Deutschland zu flüchten. Sie verließen das zerbombte Mehrfamilienhaus, in dem sie ein kleines Zweizimmer-Apartment bewohnten. In die zwei Rücksäcke und eine Reisetasche packten sie eine sorgfältig gewählte Selektion von Kleidungsstücken, Hygieneartikel und Dokumentenordner. Ohne Blick auf die zurückgebliebene Ruine machten sich L. und N. auf den Weg. Ein überfüllter Zug führte durch einen Fluchtkorridor nach Lwiw. Die Reise dauerte knapp zwei Tage. Die Flüchtlinge schliefen im Zug an jeder Stelle, die es erlaubte, sich einigermaßen ungestört niederzulassen.
L. benötigte noch zusätzliche Dokumente, die sie bei einer Freundin abholen wollten. So reisten beide über Rachiw nach Tyachev, wo sie übernachten konnten.Früh morgens führte die Route zurück über Lwiw, der polnischen Grenze nach Medyka, von wo sie der Paderborner Verkehrsbus ins Flüchtlingslager nach Pschemysl transportierten. Nach der Registrierung wollten L. und N. gerade die monströse Schlafhalle betreten, als sie von einem deutschen Guide gefragt wurden, wohin sie denn ausreisen möchten. Sie gaben an, nach Deutschland zu wollen. Nach zehn Minuten Aufenthalt in dieser Hölle befanden sich beide in einem Neunsitzer auf dem Weg nach Andernach.
Es gibt wenig Ratgeber dafür, auf welche Art und Weise man Flüchtlinge aufnimmt. Erfahrungen Familien, die bereits Wohnraum angeboten hatten helfen hier sehr gut weiter. Ich war auf die Situation vorbereitet und überlies mein Schlafzimmer und das Badezimmer den Gästen. Später kam dann noch ein Dachzimmer hinzu. Somit waren ausreichend Rückzugsmöglichkeiten vorhanden. Die Gastfamilie, die sich bereits seit mehreren Wochen in Eich befand, stellte meiner Unterkunft und auch mir persönlich scheinbar ein gutes Zeugnis aus und der erste Schritt war erfolgreich getan. Lange vor der Abreise nach Medyka hatte ich Kontakt mit der Stadtverwaltung Andernach aufgenommen. Dort fühle ich mich bis heute sehr gut aufgehoben, wenn es um behördliche oder administrative Dinge geht. Ich scannte die Ausweispapiere und sendete alle notwendigen Dokumente an das Sozialamt. Somit war sichergestellt, dass durch die gute Vorbereitung der Anmelde- und Registrierungsprozess unkompliziert und zügig funktioniert. Am ersten Tag haben wir uns auf Regeln des Zusammenlebens fremder Menschen in einem Haushalt verständigt. Wir trafen alle Vereinbarungen und mir ist bereits während der ersten Stunden aufgefallen, wie angenehm das Zusammenleben wohl zukünftig sein wird. L. und N. sind beide sehr dankbar, haben sehr gute Umgangsformen und obwohl ich dachte, dass ich als Junggeselle mein 200 qm-Haus gut im Griff hätte, zeigte mir L. dass da noch Luft nach oben ist. Wir bekamen im Vorfeld eine kleine Anbauwohnung angeboten, in die L. und N. ziehen können, sobald Renovierungsarbeiten abgeschlossen sind. Demnach ist es geplant, dass meine Gäste bis Mai/Juni in meinem Haus bleiben.
Wie in meinen ersten Beiträgen beschrieben, hört die Unterstützung auch meiner Begleiter Hans und Christoph nicht an meiner Eingangstür auf. Sie sind treue und fleißige Unterstützer im Projekt, auf die ich mich immer verlassen kann. Neben den behördlichen Abläufen und Maßnahmen, die ich in der letzten Folge des Berichtes genauer beschreibe, haben wir Maßnahmen gemeinsam festgelegt:
• Das Erlernen der Sprache, beginnend am ersten Tag.
• Die Anschaffung notwendiger Kleidungsstücke und Hygieneartikel.
• Die Anschaffung von Hardware (Notebook und Smartphone inklusive deutscher SIM-Karten).
• Die stufenweise Anschaffung von notwendigen Möbeln und Haushaltsgegenständen für den Bezug der ersten Wohnung.
• Die Sicherstellung der problemlosen Teilnahme an den letzten Abiturprüfungen online in der Ukraine.
• Die Suche nach einer Arbeitsstelle für L..
• Die Herstellung kulturelle/interkultureller Kontakte (inklusive Sportaktivitäten).
Meine Gäste und ich frühstücken täglich um 08.00 Uhr und nehmen im Anschluss ca. zwei Stunden Deutschunterricht auf uns. Ich bin kein ausgebildeter Lehrer, aber es macht aus meiner Sicht Sinn, in einem ersten Schritt Haushaltsgegenstände, Fahrzeuge/Verkehr, Zeitbegriffe (Monate, Wochentage, Uhrzeiten), Bundesländer und Städte sowie das Alphabet und Zahlen zu lernen. Hierfür wurden in Schreibheften entsprechende Spalten angelegt und befüllt. Während der Aufräumarbeiten oder Fahrten in die Stadt frage ich die Begriffe kontinuierlich ab. Die Kommunikation untereinander funktioniert hervorragend, verbal wie nonverbal. Gemeinsam haben wir bereits in den ersten Tagen ein Gefühl für einen ausgewogenen Rückzug und gemeinsame Aktivitäten entwickelt. Notebook und Smartphone sind keine Weihnachtsgeschenke, sondern notwendige Komponenten, um Bildung, Kommunikation und Orientierung zu sichern. Ohne den Einsatz dieser Technik wäre eine Kommunikation untereinander nicht möglich gewesen. Wir benötigen sie fast ständig und wenn der Bedarf geringer wird, haben wir den ersten großen Meilenstein überwunden.In der ersten Woche haben wir bereits viel geschafft.
• Der Bedarf an einem professionellen Sprachunterricht ist angemeldet.
• Beide Gäste haben ein Gratis-Ticket für die regionale Mobilität.
• Es steht ein angemessenes Budget/Handgeld für persönliche Anschaffungen zur Verfügung.
• Die Abiturprüfungen finden wie geplant statt.
• Die nötigen amtlichen Schritte sind eingeleitet.
• In den nächsten Tagen findet ein Vorstellungsgespräch für L. statt.
• Die Routine im Zusammenleben wurde schnell gefunden.
• L. und N. sind in die Netzwerke und Freizeitaktivitäten eingebunden.
Ich habe an der aktuellen Situation nichts auszusetzen. Ich würde es tun, gäbe es einen Grund.
Während ich hier schreibe, wird im Hintergrund-TV von der Bombardierung von Charkiw berichtet. L. bereitet ein traditionelles Essen vor und N. hilft ihr dabei. Beim Anblick der Bilder fallen gelegentlich Tränen und ich denke mir, was für eine verrückte Welt. Nicht genug, dass Mutter Erde uns gerade ausspuckt, wir beschäftigen uns den ganzen Tag mit Raketen, Massenhinrichtungen und anderen schlimmen Dingen. Können wir diese kriminellen Menschen nicht einfach in eine von ihnen selbstgebaute Rakete setzen und sie dort hin schicken, wo sie lebenswerte Planeten finden wollten?
Morgen: Wie geht es weiter und Zusammenfassung
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