Der Ort „Pschemysl“ ist uns bereits auf dem Hinweg aufgefallen, weil sich nahe der Hauptstraße ein riesiges Einkaufszentrum befand, auf dessen Parkflächen man Zelte, Container sowie Reisebusse erkennen konnte. Es ist das Flüchtlingslager, in das wir von einem Volontär in Medyka geschickt wurden, um uns als Freiwillige zu registrieren, um dann anschließend in Medyka helfen zu können. Auf den ersten Blick wurde deutlich, dass sich viele Transportfahrzeuge im Kreisverkehr der Halle bewegten, um Flüchtlingskontingente aufzunehmen, um sie anschließend in Flüchtlingsaufnahmelager nach Italien, Frankreich oder Deutschland zu bringen. Wie waren uns sicher, am richtigen Ort zu sein.
Das gesamte Areal war besser organisiert und nach einem definierten Prozess aufgebaut. Außerhalb des Gebäudes befanden sich Registierungszelte, Dusch- und Toilettencontainer. An der Front des Einkaufszentrums haben sich Helfer oder Organisationen positioniert, bei denen sich sowohl Flüchtlinge als auch Fahrer von Transportfahrzeugen mit Getränken, Nahrung, Gewürzen, usw. eindecken konnten. Immerhin haben auch die abholenden Personen vermutlich ähnlich wie wir weite Wegstrecken zurückgelegt.Das Gebäude besaß zwei Eingänge, die sich an den äußeren Ecken befanden. Beide Pforten waren durch Security besetzt und es durften nur Flüchtlinge sowie registrierte Helfer in das Gebäude. Immerhin handelte es sich um einen nach innen offenen monströsen Intimbereich von unzähligen Personen. Im Vorfeld des Gebäudes waren ehemalige kleine Geschäftsbereiche zu erkennen. Erfahrungsgemäß befinden sich Schlüsseldienste, Bekleidungsgeschäfte oder Fast-Food Restaurants darin. Diese Räumlichkeiten wurden als Second Hand Läden, Reservefläche für Nahrung aber auch Aufenthaltsbereiche für Flüchtlinge genutzt. Wenn man an diesen Geschäften vorbei geschaut hat, konnte man eine schmale Lücke des Eintrittsbereiches zum ehemaligen Großhandel erkennen. Ich war beeindruckt. Hunderte Menschen waren auf engstem Raum Bett an Bett, getrennt von schmalen Durchgangswegen untergebracht und verbrachten dort ihre Zeit. Ich mag mir nicht vorstellen, welche Geräuschkulisse diese hohe Anzahl vermutlich traumatisierter Menschen kontinuierlich, aber vornehmlich nachts bietet.
Wenn man vor den Eingangsbereichen wartete, konnte man erkennen, dass die geräumigen Flächen hinter der Security genutzt wurde, um zuvor zusammengestellte Flüchtlingskontingente zu sammeln, um sie anschließend an die Busse zu verteilen. Jeder Flüchtling, jeder Helfer war registriert. Auch unser Weg führte zunächst zur Registrierung. In englischer Sprache machten wir unsere Absichten deutlich und übermittelten unsere Daten. Im Anschluss wurden wir zu einem Covid-Test geführt, der wenig überraschend (wir waren geimpft und genesen) negativ ausfiel. Kurze Zeit später suchte uns ein deutscher Guide auf, der die besten Absichten hatte und eine hohe Dynamik versprühte. Auch ihm erklärte ich, dass wir bis zu 6 Personen aufnehmen möchten, um sie an zwei stellen unterzubringen. Wir machten deutlich, dass es uns darum geht, Menschen in unserer Heimat eine Rundumunterstützung für eine erfolgreiche und zügige Integration inklusive Wohnung, Arbeit, Schule und Kultur zu geben. Wir warteten ein bis zwei Stunden vor dem Gebäude. Warten im übermüdeten Zustand ist hart. Wir hofften auf eine schnelle und optimale Zuweisung von Kandidaten. An dieser Stelle soll unbedingt erklärt werden, dass wir für jedes Geschlecht, mit oder ohne Haustier offen waren. Lediglich das Setting für den Integrationsprozess sollte vorhanden sein, weil wir hierfür alles bereits im Vorfeld angelegt und Ressourcen hierfür bereitgestellt hatten.
Während wir warteten, hörten wir zwei deutsche Guides, die sich unterhielten. Eine der beiden erzählte der Kollegin, dass unbedingt die „drei Alten“ untergebracht werden müssen, weil sie nicht wissen, wohin mit ihnen. Gegen 13.00 Uhr rief uns unsere Kontaktperson zu, dass er sechs Personen zur Pforte bringt, die wir mitnehmen können. Neugierig folgten wir bis zum gesicherten Bereich. Michael begleitete sechs Menschen, darunter eine Frau im Altersbereich 80 bis 90 Jahre zum Ausgang und wollte uns diese armen Personen übergeben. Man kann es mir nun ankreiden oder nicht, aber nach kurzer Absprache haben wir entschieden, diese Personen nicht mitzunehmen. Hierfür nenne ich gerne die Gründe. Wir haben einen klaren Plan entwickelt und ein Netzwerk aufgebaut, dass die Generationen der Altersklasse bis ca. 60 Jahre abdeckt und aus der Kombinationen von bis zu drei Generationen beinhaltet. Das gesamte Projekt „Fluchthilfe 360“ ist auf diese Zielsetzung aufgebaut. Wenn wir die sechs älteren Menschen mitgenommen hätten, wäre dieses Potenzial zur Integration leer gelaufen. Dazu kam, dass die Räume, die wir zur Verfügung stellen im ersten und zweiten Stockwerk verteilt sind. Drei von sechs Rentnern benötigten Unterstützung beim Gehen und in der gesamten Mobilität. Somit waren die Unterbringungsmöglichkeiten vollkommen ungeeignet. Wir lehnten unter den traurigen Blicken der Betroffenen ab und ich war wütend auf den Guide, weil er die Rentner und mich mit der direkten Konfrontation in eine unwürdige Situation gebracht hatte. Mehr Empathie und weniger Dynamik wären wichtige Skills bei der Verteilung von Menschen, was schön würdelos genug ist, wenn man es so ausdrücken muss. Schon wieder entwickelte ich schlimme Gefühle gegen Putin.
Die Blicke der Personen waren nicht vorwurfsvoll, sondern verzweifelt. Ich werde sie nie vergessen. Ich lies unsere Kontaktperson erneut rufen und wir machten jetzt unmissverständlich klar, worum es uns geht. Er verschwand und kam nach 30 Minuten zurück. Er sagte, er habe eine Mutter mit Kind, die nach Deutschland möchten. Reflexartig holte Hans die Sitzerhöhung und eine Tüte mit Teddys und Spielzeug aus dem Transporter. Dinge, die wir für diesen Fall vorbereitet haben. Dann war es so weit. Zwei sympathische Menschen kamen auf unser Fahrzeug. Hans drehte um und entfernte das vorher liebevoll platzierte Equipment, denn das Kind war 17 Jahre alt und besaß eine Körperlänge von 1,95 Meter. Ohne große Sozialromantik schickte sie der Guide zu uns und setzte sie ins Auto. Wenige Zeit später befanden wir uns mit vier unbesetzten Plätzen auf der Rückfahrt. Etwas überrumpelt hatten scheinbar alle das Bedürfnis, einen direkten Stopp einzulegen, damit man sich in Ruhe vorstellen kann. Hierzu suchten wir eine Parkplatz an einem anderen Baumarkt auf. Die ängstlichen Blicke der wertvollen Fracht verlangten nach einer Erklärung. Für diese Situation waren wir präpariert. In der Heimat befand sich eine sehr engagierte Dame polnischer Abstammung. Sie übersetzte mittels WhatsApp Videoanruf die ersten entwarnenden Botschaften. Beruhigt setzten wir die Fahrt fort. Jeder erfüllte seine Aufgaben und von der Logistik bis zur Verpflegung lief alles wie geplant. Da wir noch vier frei Plätze besaßen, beschlossen wir, Kurs auf den Hauptbahnhof in Breslau zu nehmen. Dort waren gemäß Erfahrungen anderer Transporte noch viele Flüchtlinge, die nach Deutschland auswandern wollten. Unmittelbar vor den Stadttoren erreichte uns ein Anruf von Yulia, eine ukrainische junge Mutter, die wir Tage zuvor kennengelernt hatten. Sie erklärte, dass sich ihre Freundin mit Mutter und einem zweijährigen Kind mit eigenem Auto auf den Weg aus Kiew nach Deutschland machen würde. Die Stadt war erneut unter Beschuss. Sie bat meinen Bruder Alex darum, seine Wohnmöglichkeit zur Verfügung zu stellen. Wir waren auch etwas erleichtert, aber als ich die freien Plätze angeschaut habe sah ich die Menschen, die wir aufgrund ihrer mangelnden Alters-Passung zurückgelassen haben. Hätten wir den Verlauf erahnen können, wäre die Entscheidung anders ausgefallen und wir hätten vier weitere Personen mit nach Deutschland nehmen können, um sie zumindest an eine zentrale Stelle (Trier) zu übergeben. Es geht mir nicht gut mit diesen Gedanken und ich habe ein schlechtes Gewissen. Wir fuhren durch die die Nacht und wechselten uns aufgrund von Schlafmangel in der Endphase alle 60 Minuten ab. Erschöpft fielen alle ins Bett.Morgen: „Neue Heimat“
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